UZ: Die Verfassungskrise

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In der Bundestagsdebatte vom vergangenen Dienstag wurden die Hauptfragen zumindest gestellt: Haben bundesdeutsche Behörden neofaschistische Mörder wissentlich unterstützt, haben sie sie finanziert, ausgerüstet und sie zu ihren Mordtaten animiert? Sollten diese Fragen bejaht werden, sind die antifaschistischen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland erschüttert.

In diesem Fall hätten Staatsorgane, die per Eid auf den Schutz der Verfassung verpflichtet sind, über Jahrzehnte diesem Auftrag aktiv und bewusst zuwidergehandelt. Sie hätten die Verfassung systematisch und nicht im Einzelfall gebrochen. Im Moment spricht mehr für diese ernste Annahme als dagegen.

Der Verzicht auf den möglichen Zugriff auf die drei Hauptverdächtigen; der sich immer mehr erweiternde Kreis von unmittelbar Verdächtigen; die Unbekümmertheit, mit der die Terrorgruppe am helllichten Tag mordete und ihre Mordinstrumente aufbewahrte; die Einbettung der Terrorgruppe in das braune Netzwerk und die sichtbare Nähe von Beamten des Verfassungsschutzes zu Tatorten der Morde; all diese Momente legen auch in ihrer Häufung den Verdacht zwingend nahe, dass von Zufall keine Rede sein kann. Wer oder was hat die ermittelnden Beamten beim Polizistinnenmord von Heilbronn daran gehindert, ihren Blick in die thüringische Heimat der ermordeten Kollegin zu richten. Dorthin, wo sie ihre Mörder mutmaßlich – hier ist das Wort einmal angebracht – getroffen hat.

Es gibt ein weiteres Indiz, das den Blick bis in die Staatsspitze lenkt. Auch dieses wurde im Bundestag genannt. Warum sind Zeitungen und nichtstaatliche Stellen innerhalb weniger Tage in der Lage, Fakten über neofaschistische Gewalttaten und neofaschistische Ausbreitung zu nennen, die die Bundesregierung nun unter dem Druck der Ereignisse anerkennt, nachdem sie sie seit Jahrzehnten und über dutzende Anfragen hinweg relativiert, wenn nicht glatt geleugnet hat? Seit Jahrzehnten – das heißt auch, dass keine der im Bundestag und in den Länderparlamenten vertretenen Parteien, vor allem keine Regierungsparteien, sich der Frage nach ihrer Verantwortung entziehen kann.

Die Fraktion „Die Linke“ hat sich in dieser Situation entschlossen, eine gemeinsame Erklärung aller Bundestagsparteien mitzutragen. Darin heißt es unter anderem: „Rechtsextreme, Rassisten und verfassungsfeindliche Parteien haben in unserem demokratischen Deutschland keinen Platz. Deshalb fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf zu prüfen, ob sich aus den Ermittlungsergebnissen Konsequenzen für ein NPD-Verbot ergeben. Die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an Parteiverbote sind zu berücksichtigen.

Wir müssen gerade jetzt alle demokratischen Gruppen stärken, die sich gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus engagieren. Wir werden prüfen, wo dem Hindernisse entgegenstehen. Wir brauchen eine gesellschaftliche Atmosphäre, die ermutigt, gegen politischen Extremismus und Gewalt das Wort zu erheben. Rechtsextremistischen Gruppen und ihrem Umfeld muss der gesellschaftliche und finanzielle Boden entzogen werden.“

Erfreulich ist die Bereitschaft zur Prüfung des NPD-Verbotes. Wir werden sehen, was dies ergibt. Vieles in dieser Erklärung ist so oder ähnlich schon anderswo gesagt worden. Gefolgt ist nicht viel. Auch ist die Erklärung nicht frei von der Stoßrichtung gegen links. Manche Passage ist allzu deutlich nach außen gerichtet. In dieser Form wird sie dem Ernst der Lage nicht ausreichend gerecht.

Im Kern aller Überlegungen muss stehen, dass dem antifaschistischen Auftrag der Verfassung wieder Geltung verschafft werden muss. Dazu gehört zuallererst das Bekenntnis, dass dieser missachtet worden ist. Ohne Ansicht von Amt und Person muss aufgeklärt werden, wie, wo und von wem im Einzelnen. Dem Verbot der NSDAP und aller ihrer Nachfolgeorganisationen muss wieder Geltung verschafft werden. Wir brauchen keine neuen Gesetze, sondern demokratische Politiker und Staatsorgane, die den Geboten des Grundgesetzes folgen.

Solange dies nicht geschieht, werden wir die Demokratie auf der Straße und im Betrieb verteidigen müssen, sonst haben wir bald keine mehr.

Adi Reiher

Quelle: www.unsere-zeit.de

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