UZ: Zum Zusammenhang des demokratischen und des sozialistischen Kampfes

Josef Schleifstein über Grundgedanken von Marx, Engels und Lenin
Vor 20 Jahren, am 24. Juli 1992 ist Josef Schleifstein gestorben. Sein Werk und Wirken als marxistischer Lehrer, Wissenschaftler, Kommunist wurde damals über Parteigrenzen und -gräben hinweg in einer beeindruckenden Broschüre „Reale Geschichte als Lehrmeister“ gewürdigt. Sie ist, neben anderen Büchern von Jupp Schleifstein, auf dem Archiv-Stick „100 Bücher aus (fast) 50 Jahren“ enthalten. Die Marxistischen Blätter fühlen sich bis heute dem Lebenswerk und Erbe von Jupp Schleifstein verpflichtet. In der jüngsten Ausgabe dokumentieren sie einen (hier gekürzten) Beitrag, den er 1969 kurz nach der Konstituierung der DKP für das Heft 6 der Marxistischen Blätter geschrieben hatte und der heute trotz oder gerade wegen der globalen Rahmenbedingungen ohne sozialistische Systemkonkurrenz nichts von seiner prinzipiellen Gültigkeit verloren hat.

Der Zusammenhang zwischen den demokratischen Forderungen und Zielen der Arbeiterbewegung und ihrem sozialistischen Endziel gehört seit langem zu einem der wichtigsten und jeweils neu zu analysierenden Problemkreise einer marxistischen Strategie und Taktik. Das ist leicht verständlich, ist dieser Zusammenhang doch Ausdruck des Verhältnisses, das Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Arbeiterklasse miteinander verbindet.

Die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, dass deren Vorwärtsentwicklung und erst recht ihre dauerhaften Siege in hohem Grade davon abhängen, ob es ihr gelang, das Verhältnis von demokratischem und sozialistischem Kampf richtig zu bestimmen und danach zu handeln, während sie allenfalls Augenblickserfolge errang, unfruchtbar blieb oder gar weit zurückgeworfen wurde, wo sie entweder ihr sozialistisches Ziel vergaß, oder wo sie die demokratischen Aufgaben negierte. Da Marx und Engels – im Gegensatz zu allen utopischen und kleinbürgerlichen sozialistischen Strömungen – den Sozialismus als das Ergebnis der gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus und des aus ihnen resultierenden proletarischen Klassenkampfes auffassten, konnten ihnen auch niemals die Bedingungen gleichgültig sein, unter denen die Arbeiter sich ihrer Interessen als Klasse bewusst werden, ihre Organisation und ihre Kräfte ausbilden und ihren Kampf um die endgültige soziale Befreiung ausfechten.

Marx und Engels haben in verschiedenen geschichtlichen Perioden immer wieder einige grundsätzliche Gesichtspunkte über den Zusammenhang der demokratischen und sozialistischen Aufgaben der Arbeiterbewegung hervorgehoben. Schon im „Kommunistischen Manifest“ formulierten sie den Grundgedanken der Verbindung von Gegenwarts- und Zukunftsinteressen: „Sie (die Kommunisten) kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.“ (Marx/Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 492)

Vor, während und nach der Revolution von 1848/49 vertraten Marx und Engels den Standpunkt, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum immer dann unterstützen müssen, wo diese im Kampf um Demokratie entschieden gegen den Feudalismus auftreten. Später, während des so genannten preußischen Verfassungskonflikts 1864-65 ergänzte Engels diesen Gedanken dahingehend, die Arbeiterklasse müsse auch dann für bürgerlich-demokratische Rechte kämpfen, wenn das Bürgertum diesen Kampf aus Furcht vor den Arbeitern aufgebe. „Selbst dann“, schrieb Engels, „wird der Arbeiterpartei nichts übrig bleiben, als die von den Bürgern verratene Agitation für bürgerliche Freiheit, Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht trotz der Bürger fortzuführen. Ohne diese Freiheit kann sie selbst sich nicht frei bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebenselement, für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat.“ (Ebenda, Bd. 16, Berlin 1962, S. 77)

Selbstverständlich kann sich die Arbeiterbewegung nicht auf den Kampf um eine maximale Ausdehnung der bürgerlichen Demokratie beschränken, wenn sie ihr sozialistisches Ziel nicht aufgeben will. Auch die „freieste“ bürgerliche Republik ist ökonomische und politische Klassenherrschaft der Bourgeoisie; in ihr übt, wie Engels sagte, „der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sicherer aus“. (Ebenda, Bd. 21, Berlin 1962, S. 167) Zu ihrer sozialen Befreiung muss die Arbeiterklasse die politische Macht erkämpfen, von der bürgerlichen zur sozialistischen Demokratie vorwärtsschreiten.

Diese hier nur angedeuteten Grundgedanken von Marx und Engels wurden durch die Theorie und Praxis Lenins und der kommunistischen Bewegung bestätigt und bereichert. Lenins in der ersten russischen Revolution entwickelte These vom Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Revolution hat – unter reiferen geschichtlichen Bedingungen – nach dem zweiten Weltkrieg in den aus dem antifaschistischen und antikolonialen Befreiungskampf hervorgegangenen volksdemokratischen Revolutionen ihre Lebenskraft erwiesen. Besonders bedeutsam für die heutige Arbeiterbewegung in den entwickelten kapitalistischen Ländern sind jene Gedanken Lenins, die er während des ersten Weltkrieges und in den Monaten zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution 1917 entwickelte. In seiner Imperialismus-Analyse unterstrich Lenin die Feststellung Hilferdings, das Finanzkapital bedeute „nicht Freiheit, sondern Herrschaft“. Lenin zeigte, dass der Imperialismus „Reaktion auf der ganzen Linie“ ist, dass er alle antidemokratischen, zu Unterdrückung, Expansion und Krieg drängenden Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft verstärkt. Aber gerade diese demokratiefeindlichen Tendenzen des Imperialismus rufen in der Arbeiterklasse und in anderen werktätigen Volksschichten unvermeidlich die Gegentendenz des Kampfes um Demokratie hervor.

In vielen Auseinandersetzungen während des Krieges wandte sich Lenin gegen die Auffassung, als ob der Kampf um Demokratie oder um einzelne demokratische Forderungen den sozialistischen Kampf abschwächen, die Losung der sozialistischen Revolution verdunkeln könne. Unablässig betonte er, dass im Gegenteil die Arbeiterklasse sich nur dann auf eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft vorbereiten könne, wenn sie einen allseitigen, konsequenten Kampf um Demokratie führe. (W. I. Lenin, Werke, Bd. 21, Berlin 1968, S. 415; Bd. 22, Berlin 1960, S. 363/4; Bd. 23, Berlin 1964, S. 69/70) In den Monaten vor der Oktoberrevolution, als das Problem des Auffindens jener Formen und Übergänge, die die Massen an den Kampf um den Sozialismus heranführen können, besonders akut war, entwickelte Lenin den Gedanken, dass ein konsequenter, von der Arbeiterklasse, den Bauern und den anderen werktätigen Schichten getragener „Demokratismus“ (insbesondere unter den Bedingungen einer staatsmonopolistischen Verschmelzung von Konzernmacht und Staat) unvermeidlich „Schritte zum Sozialismus“ bedeute. (Ebenda, Bd. 25, Berlin 1960, S. 368-370)

Es verdient besonders festgehalten zu werden, dass Lenin nach den Niederlagen der Revolutionen in Deutschland, Österreich, Ungarn 1918/19, als deutlich geworden war, wie viel schwieriger sich der Beginn einer sozialistischen Umwälzung in den ökonomisch höher entwickelten Ländern gestalten würde, auf diesen Kerngedanken zurückkam. Er betonte, dass für die Arbeiterbewegung, für die Kommunistischen Parteien in Westeuropa das Aufspüren jener Übergänge entscheidend sein werde, durch die die arbeitenden Massen an den Kampf um den Sozialismus herangeführt werden können. (Ebenda, Bd. 31, Berlin 1966, S. 79, 86) …

Gültigkeit der Strategie Lenins

Die objektive staatsmonopolistische Entwicklung wie die subjektive Strategie der herrschenden Kreise in den imperialistischen Ländern haben nicht, wie manchmal behauptet wird, die Gedanken Lenins über die Verknüpfung des demokratischen und des sozialistischen Kampfes veraltern lassen oder unanwendbar gemacht, sondern ihre Bedeutung im Gegenteil noch erhöht. Das fand seinen Niederschlag sowohl in der Erklärung von 1960 wie im Dokument der Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien vom Juni dieses Jahres.

Erstens kann die Arbeiterbewegung heute einer Gesamtstrategie der Monopolbourgeoisie nur begegnen, wenn sie ihrerseits alle Elemente und Stufen ihres Kampfes zu einer Gesamtstrategie verbindet, worin die Aufgaben auf dem Gebiet der sozialen, demokratischen und friedlichen Tagesinteressen organisch verbunden sind mit denen im Kampf um antimonopolistische Umgestaltungen, für eine demokratische Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens und mit dem sozialistischen Ziel. Nur so können Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen verknüpft werden, können Bewusstsein, Organisation, Erfahrung, Kampfmethoden jene Reife erlangen, die überhaupt erst ermöglicht, breitere Massen an sozialistische Zielsetzungen heranzuführen.

Natürlich kommt in diesem Prozess der Bildung von Klassenbewustsein gerade in der Bundesrepublik, wo die sozialistischen Kräfte zahlenmäßig noch schwach sind, eine erstrangige, gar nicht zu überschätzende Bedeutung zu. Denn die Entwicklung in der Arbeiterschaft wird vor allem davon bestimmt sein, in welchem Maße und in welcher Zeit es gelingt, ihrem klassenbewussten Kern neue Kräfte zuzuführen, die DKP zu stärken.

Zweitens müssen gerade die aus der staatsmonopolistischen Entwicklung verstärkt resultierenden Formierungs- und Integrationstendenzen die klassenbewussten Kräfte der Arbeiterbewegung veranlassen, ihre demokratischen, antimonopolistischen Alternativen – als Aufgabe politischer Aktion, des selbsttätigen Handelns der Massen – konkreter, greifbarer, verständlicher, an gegebene demokratische Stimmungen und Forderungen der arbeitenden Menschen anknüpfend zu formulieren. Wer die Formierung bekämpft, bekämpft die Reaktion. Wer die Integration bekämpft, bekämpft die Illusion, mit deren Hilfe die Massen an ein reaktionäres System gebunden werden sollen. Es ist aber ein ernster Irrtum, anzunehmen, dass Formierung und Integration nur mit unmittelbar sozialistischen Forderungen angegriffen werden können. Wenn sie wirksam bekämpft werden sollen, dann wird die Ausgangsbasis nur sein können, jene Punkte aufzugreifen, in denen für breite Schichten Formierungs- und Integrationsprozesse als ihren Interessen widersprechend in Erscheinung treten, um von da aus weiter zu gehen …

Die spezifisch sozialistische Seite ihrer Praxis, die Marxisten immer und überall zu beachten haben, kann nur darin bestehen, dass sie im Prozess des Kampfes durch ihre sozialistische Kritik am System die Ursachen reaktionärer Erscheinungen und Maßnahmen erläutern und dass sie den Zusammenhang dieses Kampfes mit ihrem sozialistischen Ziel erklären.

Drittens gilt alles, was Lenin über die Unmöglichkeit gesagt hat, die demokratischen von den sozialistischen Aufgaben der Arbeiterbewegung zu trennen, heute noch mehr als in der Vergangenheit. Jeder konsequente Kampf um den Frieden, um die sozialen und demokratischen Interessen des Volkes richtet sich in erster Linie gegen die Monopolbourgeoisie als die mächtigste Stütze der spätkapitalistischen Gesellschaft. Bedeutende Erfolge im demokratischen Kampf, die geeignet sind, die Positionen und den Einfluss des Monopolkapitals zu schwächen und seine Massenbasis zu untergraben, treffen also den Hauptgegner der Arbeiterbewegung und des Sozialismus.

Gilt dies schon für den Kampf um Nahziele, so gilt es erst recht für jene tiefer gehenden antimonopolistischen Umgestaltungen, die direkt die Profit- und Machtsphäre der Monopole einschränken würden (z. B. eine echte Mitbestimmung im Betrieb, auf überbetrieblicher und gesamtvolkswirtschaftlicher Ebene: die Nationalisierung der Großkonzerne und marktbeherrschenden Unternehmen in entscheidenden Industriezweigen unter demokratischer Kontrolle) …

Viertens: Wenn es unmöglich ist, die Mehrheit der Arbeiterklasse ohne konsequenten Kampf für ihre sozialen und demokratischen Interessen an sozialistische Positionen heranzuführen, so trifft dies erst recht für die anderen werktätigen Volksschichten zu, deren Unterstützung die Arbeiterbewegung aber braucht, wenn die Macht der Monopole eingeschränkt und schließlich überwunden werden soll.

Fünftens: Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Arbeiterklasse und der anderen arbeitenden Volksschichten sind heute enger verknüpft als in früheren Entwicklungsstadien der sozialistischen Arbeiterbewegung. Einmal weil an der Zukunft – der sozialistischen Gesellschaftsordnung – bereits heute in vielen Ländern gebaut wird. Zum anderen deshalb, weil die objektiven Entwicklungsprozesse in der spätkapitalistischen Gesellschaft immer stärker zum Sozialismus drängen. Demokratischer und sozialistischer Kampf, demokratische und sozialistische Umwälzung sind heute weniger als zur Zeit Lenins durch eine „chinesische Mauer“ getrennt.

Für die Praxis der sozialistischen Kräfte in der Bundesrepublik heißt Verbindung des demokratischen und des sozialistischen Kampfes heute vor allen Dingen: Bildung von Klassenbewusstsein, Stärkung der Organisation und der Kampfkraft der Arbeiterklasse in der Aktion für ihre sozialen, friedlichen und demokratischen Interessen und Nahziele; Beachtung der unvermeidlichen, vom Kräfteverhältnis der Klassen und von der subjektiven Reife der arbeitenden Massen bedingten Entwicklungsstadien und Auffindung jener Übergänge, die geeignet sind, Arbeitermassen vom Kampf um Tagesforderungen an weitergehende antimonopolistische Zielsetzungen heranzuführen; Herangehen an alle Fragen von der sozialistischen Grundposition her, im Zusammenhang und als Bestandteil unseres sozialistischen Zieles.

Quelle: www.unsere-zeit.de

Newsletter abonnieren!

Kommentare sind geschlossen.