Mein 8. Mai 1945!

Zeitzeugenbericht. Damals, ich war noch keine 17 Jahre alt, stellte der längst verlorene und vom deutschen Faschismus entfesselte 2.Weltkrieg auch für mein noch junges Leben die Weichen. Was wir heute, die noch lebenden Zeitzeugen, mit ganz anderem Verstand und Erfahrungen am eigenen Leib, über diese Endphase des 2. Weltkrieges wissen und be- und verurteilen, erlebte ich als totalen Zusammenbruch der Ideale, Zukunftsvisionen und einer großen Hoffnungslosigkeit.

Wie war das damals?
Am 15. Januar 1945 erhielt ich aus der Hand meines Lehrobermeisters im Dornier-Flugzeugbau Wismar meinen Facharbeiterbrief ausgehändigt. Große Freude! Es war geschafft! Aber schon am übernächsten Tag erhielt ich die Einberufung zum RAD (Reichsarbeitsdienst) nach Bützow. Es waren die Tage und Wochen der großen Offensive der Sowjetarmee zur Befreiung Ostpreußens. Im Westen waren inzwischen die sehr spät gelandeten US-amerikanischen Truppen ohne schwere Kämpfe bis zum Rhein marschiert. Der Bombenkrieg der Engländer – auf besonderen Befehl Churchills – konzentriert auf deutsche Wohngebiete – war auf dem Höhepunkt.
Das alles, dass heißt die Wahrheit über den Kriegsverlauf und den nahenden Sieg über den deutschen Faschismus wurde uns Jungen, die damals noch kriegsbegeistert waren, verschwiegen. Ich hatte in den Jahren 1943-1945 in einem nationalsozialistisch geführten Lehrlingswohnheim der Dornier-Werke gewohnt. Neben der Berufsausbildung wurde ich bei der sogenannten Heimat-Flak eingesetzt und als Segelflieger ausgebildet. Wollte ich doch vor allem Jagdflieger a la Fliegeroberst Mölders und Major Galland werden. Diese Nazihelden waren uns junge, ausgebildete Segelflieger und Flugzeugbauer als Vorbild und Ideal beigebracht. Über meinem Bett hingen selbstgezeichnete Porträts dieser damals von großen Teilen der Jugend verehrten „Helden“.
Nun holte mich Mitte Januar 1945 die Einberufung zum RAD auf den Boden der Tatsachen zurück. Es folgten einige Wochen der übliche Drill und Ausbildung an Handgranate, Karabiner 98 und Panzerfaust. Wir wurden vorbereitet am Endkampf um Berlin teilzunehmen, wo Hitler in seinem Führerbunker saß!
Auch beim RAD nur Siegesparolen! Keine objektive Information wie es wirklich damals schon um Deutschland stand. Ab dem Morgenappell am 20. April – Hitlers Geburtstag – begann die Stimmung umzuschlagen. Große Betriebsamkeit setzte ein, die Unterführer wurden sichtlich nervös. Die Sowjetarmee stieß immer weiter auch auf Mecklenburg vor. Genauere Kenntnis darüber hatten wir nicht. Dann, am 24. April der Befehl: Abmarsch der Abteilung in voller Bewaffnung – Richtung Westen – Wismar – Lübeck – Kiel. Zu der Zeit waren die Straßen im Lande schon voll mit sich westwärts bewegenden, endlosen Kolonnen der Wehrmacht, die vor der vorrückenden Roten Armee Richtung Westen flohen.

Jetzt gingen auch uns „Helden“ endlich die Augen auf!
Die Erlebnisse auf dem chaotischen Marsch gen Westen lass ich hier aus Platzgründen weg.
Die RAD-Abteilung hatte sich oder wurde im Chaos auf den Straßen aufgelöst. Sollte sich aber laut Befehl bei Eutin-Malente sammeln. In der Tat: Am 28.April hatten sich etwa zwei Drittel der Einheit dort auf dem Rittergut „Gottesgabe“ eingefunden. Alle wussten jetzt: das ist das Ende!
Morgens, am 2. Mai, starkes Motorengeräusch. Drei gepanzerte Fahrzeuge der britischen Armee rollten sichernd auf den großen Platz vor dem Herrenhaus und umkreisten uns.
Der britische Kommandeur forderte unseren Chef an, nahm dessen Meldung entgegen, wer wir seien, dass wir unbewaffnet wären und uns ergäben. Der Brite staunte uns 16 bis 17 Jährige grinsend an, zog an seiner Pfeife und fuhr mit seinen Fahrzeugen davon. Er hatte den Befehl gegeben, die Einheit solle auf den Feldern des Rittergutes arbeiten und würde von dort verpflegt. Er konnte nicht ahnen, dass wir unsere Waffen, soweit noch welche vorhanden waren, in einem Waldstück sorgfältig geölt und in Zeltplanen eingewickelt vergraben hatten. Erst Jahre später habe ich in einem Brief den für diese Gegend verantwortlichen Bürgermeister mit einer Beschreibung des Waldstückes davon in Kenntnis gesetzt.
Die Tage auf „Gottesgabe“ vergingen schnell, jeden Tag neue Nachrichten vom Kriegsverlauf und die bange Frage: Was wird nach dem Krieg? Wir waren jung, alle waren Pimpfe und Angehörige der Hitlerjugend, was wird man mit uns machen? Und wenn wir überleben, was werden wir dann machen? Mein erlernter Beruf war futsch! Niemand braucht in Deutschland Flugzeugbauer.
Am 8.Mai wurde die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und damit Nazideutschlands verkündet. Freude kam nicht auf, nur eine große Unsicherheit. Inzwischen wusste auch ich, dass mein Heimatort Lübtheen zur sowjetischen Besatzungszone gehört und an ein „nach Hause“ also nicht zu denken war.

Abmarsch ins Internierungslager!
Nun kam nach dem 8. Mai der Befehl: Abmarsch in ein riesiges britisches Internierungslager für gefangene deutsche Wehrmachtsangehörige. Es war ein großes Waldstück, welches rundherum von englischen Soldaten und zu unserem Erstaunen auch von deutschen Panzersoldaten in den bekannten schwarzen Uniformen bewacht wurde. Schätzungsweise lagerten hier unter freiem Himmel etwa 10.000 bis 15.000 junge Soldaten, RAD Gruppen, Luftwaffenhelfer und Versprengte.
Alles ganz junge Leute, entwurzelt, Opfer der Nazipropaganda, ohne Zukunft, ohne Hoffnung. Nur das tägliche Überleben in den Erdlöchern war jetzt wichtig. Die Engländer teilten jedem eine kleine Dose Cornedbaef und ein halbes Brot für jeweils drei Tage zu. Ich verbrachte dort in dem Waldlager die Zeit bis zum 16. Juni. Wie tausende Menschen unter freiem Himmel in einem Wald wochenlang leben mussten, kann sich jeder mit etwas Phantasie ausmalen. So ging das bis ein Befehl vom englischen Armeekommando kam. Darin hieß es: Jugendliche Internierte unter 18 Jahren werden nicht in die Sowjetische Besatzungszone entlassen. Diese sollten sich im benachbarten Kriegsgefangenenlagern eine Art „Vormund“ selbst suchen, der unterschriftlich die Vormundschaft übernimmt und den Jugendlichen mit zu sich nach Hause in die Westzonen nimmt. So lief ich dann – wie viele andere auch – drei Tage suchend durch das Lager, sprach zig Landser vergeblich an, dann aber hatte ich doch noch Glück! Ein junger Unteroffizier Namens Fritz Behm, ein Rostocker, entschied sich für mich die Vormundschaft zu übernehmen. Per Schriftstück wurde er am 1. Juli mit tausenden anderen mit mir an seiner Seite entlassen.

Alles war anders
Endlich raus aus den Waldlöchern, aus dem Dreck, aus dem Hunger! Eine riesige LKW-Kolonne der britischen Armee transportierte am 1. Juli ca. 5.000 Kriegsgefangene in einer Tagesfahrt nach Lemgo (Niedersachsen). Von dort hatte sich jeder zu seinem Heimatort durchzuschlagen. Mit meinem „Retter“ aus der Internierung traf ich am späten Abend bei seiner Familie, die in Bad-Pyrmont wohnte, ein. Nun hieß es, sich zu orientieren, alles war anders!
Nach einer Woche Erholung bei Familie Behm, fand ich in dem naheliegenden Großbauerndorf Gellersen als einer der ersten aus der Gefangenschaft gekommenen „Landarbeiter“ auch schnell eine Arbeit. Als Junge aus einer kleinen Ackerbürgerstadt war mir landwirtschaftliche Arbeit nicht fremd.
Im Januar 1946 bekam ich ersten Kontakt zu meinen Eltern in Lübtheen, die mir die schnelle Rückkehr nach Hause schmackhaft machten und mir die Angst vor der sowjetischen Besatzung nahmen. Mit meiner Ankunft in Lübtheen am 16. Januar 1946 begann ein ganz neues Leben für mich. Unter dem Einfluss meiner antifaschistischen Eltern und anderer Kommunisten begann mein Weg zum Mitglied der Partei der Arbeiterklasse in der ich in den folgenden Jahren zu einem jungen Marxisten wurde.
Dieser Weg über zahlreiche Funktionen führte unter anderem auch dazu, dass ich, aus einer Arbeiterfamilie kommend, später an einer Hochschule in der DDR studieren konnte und mit einem Staatsexamen als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler abschloss. Ein Weg, der den 8. Mai, den Tag der Befreiung vom Faschismus, zum Ausgangspunkt hatte.

Harry Machals

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